Pater Hubertus Pauels
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Der gnadenhaft vollendete Mensch

Es war die große Tragik der zwei letzten Jahrhunderte, dass Voltaire wie Rosenberg glaubten, ohne Gnade könne der Mensch sich zu einem reinrassigen Typ unverdorbener Natürlichkeit entwickeln. Darum der unheilvolle Ruf, der die Menschheit  in den grausigen Zustand sich wild bekämpfender Raubtiere zurückgeworfen hat. Bereits in der Geburtsstunde dieser „reinen Menschlichkeit“ wurde die sieghafte Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in dem Blutregiment der Jakobiner und in dem Schlachtgetümmel napoleonischer Raubzüge erstickt. Dieses Wahngebilde der reinen Natur ohne Gnade ist ebenso sinnlos wie die Forderung: „Reißt die Seelen heraus, dann gedeiht der Leib umso kräftiger.“ Die Kirche hat darum recht, wenn sie behauptet, die menschliche Natur sei durch die fortkeimende Macht der Erbsünde so geschwächt, dass sie ohne Gnade nicht einmal einen geringen Anreiz zu verbotener Frucht lang widerstehen könne. Daher ist es für Paulus, den Menschen mit den zwei Seelen in seiner Brust, eine Selbstverständlichkeit, dass erst in Christus der Mensch zur Vollkommenheit kommt. In Christus ist ja die ganze Menschheit in ihrer Vollendung und Ungebrochenheit erschienen. Die Gnade gehört demnach so eng zu einem vollendeten Menschen, wie der Geist zur Seele, wie die Seele zum Leib.

Man kann es einem Denker wie Thomas von Aquin wohl nachfühlen, dass er mit wahrhaft christlichem Stolz seinen freisinnigen Gegnern den Satz entgegenhielt: „Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern heilt, ja vollendet sie erst.“

Trotz der Logik seiner Beweisführung blieb die Welt skeptisch. Nur vor dem ausgeglichenen Geist eines Johannes, des tief schauenden und fein fühlenden Evangelisten, vor der antiken Reise eines Cyprian, des Märtyrerbischofs von Carthago, vor dem unverbogenen Menschentyp eines Franz von Assisi, des Bruders Immerfroh, hatte sie sich gebeugt. Die anderen heiligen Männer und Frauen des Gottesreiches, die ganz dem Geiste der Selbstverleugnung und der Kreuzigung ihres idealwidrigen Unter-Ichs lebten, schreckten sie ab. Sie bewunderte wohl die übermenschliche Größe ihrer Selbstzucht und das furchtbare und klare Niederringen ihrer widerspenstigen Natur. Sie erkannten ohne Zaudern die Tatsache an, das das Schweigen des römischen Feldherrn Fabius nicht an das von religiösem Ernst  getragene Schweigen eines Bruno, des Stifters der Karthäuser, heranreiche, dass der Starkmut einer Katharina von Siena die Kühnheit des berühmten Afrikasiegers Seipio übertreffe. Aber was sie ersehnte, war nur eines: dass der Kirche wieder ein Mensch geschenkt werde, der nicht nur Gott, sondern auch den Menschen gefalle. Im 16. Jahrhundert wurde das Verlangen nach einem solchen Heiligen so stark, dass man den urwüchsigen Asketenleib eines Johannes des Täufers und die elementare Macht eines Paulus in die harmonisch ausgeglichenen Formen heidnischer Sagengestalten zwängte. Dieser Hang zum Ideal ausgereifter Menschlichkeit ist uns Späten, die die ganze revolutionäre Wucht des Untermenschlichen erlebt haben, ein Geheimnis, vielleicht nur verständlich als Reaktion auf die aszetische Herbheit der spätmittelalterlichen Ordensfrömmigkeit.

Bereits die Schule eines Thomas von Kempen, die so genannte moderne Frömmigkeit, hatte an dem weltversöhnenden Ideal lebensfroher Heiligkeit gearbeitet. Die Franziskanerpäpste Sixtus IV. und Julius II. hatten dieses Ideal mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit zu fördern gesucht, vor allem durch die kirchliche Einführung des Festes der Immaculata, die ja die herrlichste Ausgestaltung des verklärten Menschentyps ist. Schließlich hatten Ignatius  und seine Getreuen mit starker Hand den lebendigen Strom der Strebungen und Kräfte ihres menschheitsnahen Jahrhunderts in ihrer Aszese zu lenken gewusst. Aber es fehlte noch immer der Typ der verklärten Menschlichkeit, worin die ganze Reise und Ausgeglichenheit des Gottmenschen sich widerspiegeln konnte. Philipp Neri, das Wunder heiliger Lebensfreude, war wohl wie das Schwellen einer Knospe, aber volle Entfaltung bedeutete er nicht. Da schenkte Gott in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nachdem die Kämpfer der ersten Stunde bereits vom Schauplatz der heißen Religionskämpfe abberufen waren,  in einem savoyardischen Grafensohn das heiß ersehnte Ideal: Franz von Sales. Das war seine Sendung: nicht die vollkommene Kraft wie Ignatius oder die vollkommene Weisheit wie die Kardinäle Bellarmin und Bexulle oder die vollkommene Duldsamkeit wie Rosa von Lima seinem Jahrhundert zu offenbaren, sondern die vollkommene Güte des göttlichen Meisters, von der Paulus in der unmenschlich drückenden Hast eines römischen Gefängnisses schreiben konnte: „Erschienen ist die Menschenfreundlichkeit und die Güte unseres Herrn uns Heilandes.“

Die feine, gewinnende und gütige Art des Genfer Bischofs zog sowohl den frivolen Franzosenkönig Heinrich IV. wie den englischen Stuartsprössling Jakob in den Bann. Zweimal versuchte Rom, ihn zum Kardinal zu machen, und der erzbischöfliche Stuhl von Paris wurde ihm wiederholt angeboten. Viele glaubten, besonders beim heiligen Opfer, der göttliche Meister müsse während seines irdischen Lebens etwa wie Franz  von Sales ausgesehen haben. Schwer war es im Heiligsprechungsprozess, eine Ranggliederung seiner Tugenden aufzustellen. Denn es schien, als ob er alle in ihrer Vollendung geübt habe. Was wohl am stärksten auffiel, war die Tatsache, dass er lebte wie alle anderen und doch anders als sie alle; dass er nichts verwarf, was edel, gut und schön war, sondern beseelte und durchflutete mit dem Lichte seiner heiligen, von Liebe durchglühten Seele. Was die lebensfrohen Menschen am meisten bei Heiligen abschreckte, fanden sie bei ihm nicht: die äußere Strengheit. Im Gegenteil: er kleidete sich wie sie, er liebte Sonne und Rose, Bächlein und Vöglein wie sie. Und doch bemerkten sie nie etwas Ungeordnetes und Zuchtloses bei ihm: im Gegenteil: alles war durchflutet von der Heiterkeit und Einfalt eines Gott zugewandten Gemütes. Alles atmete nach dem Zauber des gütigen Lächelns, die Liebe tiefen Verstehens.

Worin lag wohl sein Geheimnis? Es war das Pauluswort: „Was gerecht, was heilig, was liebenswürdig, was rühmlich ist, was eine Tugend, was löbliche Zucht ist, das beherzigt.“ Er sah keinen Gegensatz zwischen der Schöpfung und der Erlösung; im Gegenteil: der Erlöser gab uns erst das Auge, um die Lilien des Feldes in ihrer Schönheit zu bewundern, erschloss uns erst das Herz für den tiefen Sinn der Verwandlung des Wassers in Wein und die Vermehrung der Brote und Fische.

So wundert es uns nicht, dass sich die Menschen, die Franz von Sales formte, durch ihre Feinsinnigkeit und Reife, durch ihre Ausgeglichenheit und Weltoffenheit von den Menschen ihres Jahrhunderts auch unterschieden. Selbst die herbsten Charaktere wie die Baronin Johanna Franziska von Chantal und die Gattin des Verwaltungsbeamten Flechére´, mussten unter seiner Leitung der Macht seines Ideals sich ergeben und gütige, ausgereifte und harmonisch entwickelte Menschen werden. Kein Stand und kein Beruf braucht auch nur einen Schatten seines Eigenen zu opfern. Im Gegenteil. Franz von Sales brachte jedem Menschen in seinem Berufs- und Standesideal zur letzten Vollendung. Denn laut verkündete er es an jeder Straßenecke und auf jeder Kanzel, dass erst die Gnade die eheliche Liebe läutert und vollendet, ihr jene Tiefe und Glut gibt, die den Trauring zum Symbol ungestörter Treue formt; dass erst die Gnade die öffentliche Ruhe und die ungeheuchelte Herzlichkeit des Gemeinschaftslebens gewährleistet, weil sie jene Seelenkraft und Herzensliebe schenkt, die dem Menschen zum opferfrohen Träger jeder gemeinsamen Last bildet.

Durch die Gnade erst wird der Mensch ganz Mensch, der dem Jubel des Schöpfungsmorgens entsprechen kann. Oft zitiert man das Wort, das Franz von Sales einem altrömischen Dichter entlehnte, als er die tiefe Trauer um den Tod seiner Mutter entschuldigen zu müssen glaubte: „Ich bin nur ein Mensch, mehr nicht.“ Doch vergisst man nur zu sehr das andere Wort: „Christus lebe in unserem Herzen!“ Dieses Wort, das er zum Motto seiner Briefe und Predigten machte, gibt den Schlüssel zum Verständnis seiner ganzen Persönlichkeit. Dadurch erreichte er erst jene Reife und Vollendung, die von der Mit- und Nachwelt soviel gepriesen und bewundert wurde. Er war bereit, wie er mit stärkstem Nachdruck wiederholte, selbst die kleinste Faser seines Herzens herauszureißen, die nicht für Gott war. Er war sich nur zu sehr bewusst, dass er nur soweit Mensch war, als er an der Menschwerdung des Gottessohnes teilnahm; dass er nur soweit Persönlichkeit sein konnte, als er die zweite göttliche Person in sich leben ließ. Darum war es sein größtes Bemühen, ganz Christi Geist in sich wirken zu lassen, damit er denken können wie Christus, handeln könne wie Christus,  lieben und dulden könne wie Christus.

Dieses Ideal forderte die letzte Reinigung selbstherrlichen Denkens und Wollens. Darum war die Verwirklichung seines menschlichen Ideals nur möglich durch größte Selbstzucht, besser durch grenzenlose Hingabe an Gottes liebevolle und stets weise Führung. Die Bildsamkeit und Biegsamkeit seiner Seele sah er daher nur gegeben durch die stündliche Verzichtleistung auf eigenständiges Wollen und Planen, damit nur noch Gottes Wille in ihm wirke, - durch das tägliche Bekenntnis zum Geiste absoluter Demut, damit Gottes Gnade ganz in ihm herrsche.

Es wäre töricht, ihn darum zu einem Menschen der Passivität zu stempeln. Denn sein Schaffen übersteigt die Kraft des Größten der Großen seines Jahrhunderts. Wir wundern uns aber auch nicht, dass die Ausgestaltung Christi in seiner Seele ihn zum größten Aszeten, zum Mann größter Abtötung und Selbstzucht gemacht hat, dass der Gründer des berühmten Pariser Priesterseminars, Jean Jaques Olier, bekannte, er kenne keinen Heiligen, der abgetöteter sei als Franz von Sales, als auch keinen, der die Menschen mehr abtöte als er. Nicht den rauhen Habit eines Karthäusers forderte er, wohl aber die geduldige Unterwerfung unter den Zwang der Etikette. Er verlangte nicht das Fasten des Karmels, wohl aber die Anpassung an die manchmal schier unerträglichen Tischsitten des Gastgebers. Er wollte nicht die absolute Armut eines Franziskaners, wohl aber das gottergebene Ertragen der täglichen Kümmernisse und das tägliche Brot.

Niemand sah dieses Todesleiden Christi, das der Mensch an sich trug; trotzdem war es ein Sterben, das manchmal die Todesnot der Ölbergstunde kannte. Die Außenwelt sah den stillen Glanz der Reife, Güte und Menschenfreundlichkeit Christi, die alle bezauberte, - und der Vater, der ins Verborgene schaut, wusste um das einsame Sterben des Weizenkorns, das solche Frucht brachte. Wen Franz von Sales von allen, die sich seiner Seelenführung unterstellten, mit größtem Nachdruck forderte, die Frömmigkeit stets liebenswürdig, anziehend und edelmenschlich zu machen, weiß der Eingeweihte, dass er damit allem Untermenschlichen, ja dem Allzumenschlichen den Kampf ansagte.

Viele hat er gefunden, die sein Ideal im Alltag aufleuchten ließen, die erkannten, dass Franz von Sales ihnen die größtmögliche Vollendung ihrer edelmenschlichen Anlagen geschenkt. Unmöglich wäre es Franz gewesen, soviel von seinen Getreuen zu verlangen, hätte er ihnen nicht die Quellen dieser Lebenskraft gewiesen: Eucharistie und Marienverehrung. Er selbst hat als Präfekt der Pariser Marianischen Kongreation erlebt, dass erst die innige Verbundenheit mit der Mutter des Herren ihm jeden Schatten der Glaubensunsicherheit und Christusferne nahm. ER hat es mit elementarer Gotteskraft erfahren, dass gerade in den kritischen Augenblicken Maria in seiner Seele ihr göttliches Kind rettete. Sie hat ja nun einmal das Vorrecht, stets neu Christus zu gehören und zu gestalten, zuerst in sich, dann in allen Gotteskindern. Im deutlichsten und stärksten hatte er selbst die Christusgestalten in der heiligen Eucharistie erlebt, weshalb er täglich die Lebenskraft der Hostie in seine Seele zog.

So wird auch in unserem Jahrhundert, das wie das endende 16. Jahrhundert des eucharistischen und marianischen Lebens ist, die Möglichkeit gegeben sein, Menschen der Kirche und der Welt zu schenken, die zur edelmenschlichen  Reife und Vollendung des Salesianers gelangen. Dann wird gar mancher in der gottfernen Welt wieder an Christus glauben, weil er die edle Menschenfreundlichkeit und gewinnende Güte des eucharistischen Christus wieder aufleben sieht im Christus-verbundenen Christen unseres Jahrhunderts.

Der Aufsatz von Pater Hubert Pauels erschien in der Zeitschrift „Licht“ in der Nummer 10 im Jahre 1948 und wurde für das Internet abgeschrieben.

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