GEMEINSCHAFT?
Was würde wohl St. Paulus,
der Apostel der menschlichen Wirklichkeit sagen, wenn er unsere Zeit erlebte?
Würde er wiederum das hohe Lied der Liebe singen oder wie im Römerbrief nur die
schmerzlichen Worte stöhnen: „O ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich befreien
von diesem Leibe des Todes?“ Die eine Tatsache steht jedenfalls fest, die der
Papst klar formuliert: Wir befinden uns im Chaos des Untermenschlichen, in der
Auflösung aller Ordnungen, im Widerstreit aller Kräfte. Es wäre banal, dies noch
im Einzelnen beweisen zu wollen. Es genügt manchmal, nur fünf Minuten in einer
Familie zu sein, um unversöhnlichste Gegensätze zu spüren. Ja es genügen nur
drei Minuten Straßenbahnfahrt, um in die Spannung der Fahrgäste mit
hineingezogen zu werden. Vielleicht kann man es am drastischsten erleben, wie
das Spannungsverhältnis von Gemeinschaft und Einzelperson sich am peinlichsten
auswirkt, wenn man sich die Besucher des Finanzamtes einmal ansieht.
Woher all diese
Spannungen?
Zunächst vom einzelnen
Menschen. Während der Phlegmatiker sich mit allem abfindet, sucht der
Choleriker die Gemeinschaft zu vergewaltigen. Wie mancher dünkt sich im kleinen
Kreise ein Napoleon, der nach Laune und Willkür seine Umgebung tyrannisiert.
Habsucht und Neid sorgen ebenso dafür, dass es nicht allzu viele Glückliche
gibt. In unserer Zeit scheint jedoch Ärger, Unlust und Nervosität die Menschen
oft genug in gereizter Stimmung zu halten, so, dass der friedlichste Mensch der
Gesellschaft sich in die Einsamkeit der Wüstenväter wünscht. Melancholische
Naturen zerbrechen leicht an all diesen Spannungen. Man muss schon den Humor und
das leichte Blut eines Sanguinikers haben, um sich unbeirrt seine Lebensfreude
zu wahren.
Jedoch nicht allein der
Einzelmensch ist an diesen Spannungen schuld, sondern in betrüblich vielen
Fällen die Gemeinschaft selbst. Was den Staat betrifft, so spüren wir
wohl nicht mehr den Druck eines totalitären Regimes, wie die östlichen Nachbarn,
aber die internationale Verflechtung überantwortet uns unwiderruflich dem
Wirtschaftszwang mit allen Folgen der öffentlichen Arbeitsvermittlung. Um so
mehr jedoch wirkt sich im Betrieb selbst die Macht des Konzerns aus. Vielleicht
gibt es auch heute noch nicht wenige Familien und Schulen, wo die heranwachsende
Jugend stärker den Zwang spürt, als es vor der Vernunft zu verantworten ist.
Nicht nur stammen die
Spannungen von der inneren Unordnung, die durch die Sünde verursacht
sind, sei es in der Gemeinschaft, sei es im Einzelnen. Gott selbst lässt diese
Spannungen zu, um den Menschen zu prüfen und ihm eine größere
Verdienstmöglichkeit für das Gnadenleben zu schaffen. Darum hielt Jesus einen
Judas in seinem Apostelkollegium und schloss ihn nicht aus, trotz des Verrates.
Darum gab er der Kirche zu seinem Stellvertreter einen Petrus, der für ihn
selbst, vor allem während seines letzten Jahres, eine starke Belastung
bedeutete.
Gott
ruft aber auch Spannungen absichtlich hervor, um die ertragende, verstehende und
opfernde Liebe umso stärker ins Licht treten zu lassen. So ließ er Josef längere
Zeit in furchtbaren Zweifeln und Spannungen wegen der Gottesmutterschaft Mariens,
als sie von Elisabeth nach Nazareth zurückkehrte.
Wie viel schmerzliche
Spannungen kennt allein schon die Geschichte des letzten Jahrhunderts, wo
Menschen, von besten Absichten erfüllt, einander bekämpften. Hier gilt das Wort:
Gott schleift Diamanten mit Diamanten.
Trotzdem Gemeinschaft
Trotz dieser Spannungen
müssen wir aber sagen: die Gemeinschaft ist notwendig. Schon auf der
ersten Seite der Bibel lesen wir das Wort: „Es ist nicht gut, dass der Mensch
allein sei.“ Und am Ende des Alten Testamentes warnt der Weise die kommenden
Jahrhunderte: „Wehe dem, der allein ist!“
Die Einsamkeit macht den
Menschen leicht zum Eigenbrödler und Sonderling, lässt wertvollste
Anlagen nicht zur Entfaltung kommen, weckt leicht Überempfindlichkeit oder
pathologische Depressionen. Wenn schon das Sprichwort gilt: „Im kleinen Kreise
verengt sich der Sinn,“ wie viel mehr bei dem Menschen, der im engen Kreise
seiner Einsamkeit um sich selbst zu kreisen beginnt.
Die Gemeinschaft macht erst
den Menschen zum Menschen, ermöglicht das Ausreifen aller Keime und gibt seinem
Leben erst Weite und Fülle. So hat der berühmte Weise der griechischen Welt
recht, wenn er den Menschen im Unterschied vom Tiere einfach ein soziales Wesen
nennt.
Anderseits müssen wir auch
sagen: das Alleinsein ist notwendig. Die Einsamkeit bringt den Menschen
zur Selbstbesinnung, macht sein Auge und sein Herz für das Geistige, vor allem
für das Göttliche frei, gibt ihm ein Ohr für die innere Stimme und erschließt
ihm die Tiefen seiner Seele. Wer spricht nicht dem Dichter von Dreizehnlinden
das Wort nach:
Einsamkeit ist
Seelennahrung.
In der Stille kommt dem
Geiste
Rechte Geistesoffenbarung.
Wie manchen Menschen
moderner Betriebsamkeit sah man staunend vor einer Trappistenabtei stehen und
das Wort lesen. O selige Einsamkeit, o einsame Seligkeit!
Vernunft und Glaube
Was sollen wir also zur
Lösung der Spannungen tun? Franz von Sales glaubt als Erstes Vernunft
fordern zu müssen. Ein wenig Vernunft und praktischer Sinn reinigt von selbst
die schwülste Atmosphäre. Wir sollen uns nur in die Lage des Anderen versetzen,
um gerecht sein Verhalten beurteilen zu können, aber auch, um selbst in seinen
Ansprüchen maßvoll zu sein.
Wo die Vernunft nicht
genügt, tritt der Glaube mit dem herrlichen Christuswort ein: „Was ihr
einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Sogar ein
Glas Wasser, das wir dem Anderen Gott zuliebe reichen, enthält überreichen Lohn.
Der Glaube erlebt seine
größte Kraft, wenn er sich in der Liebe auswirkt. Das einzige Gesetz, das
die Liebe kennt, ist das Wort Christi: „Liebet einander, wie ich euch geliebt
habe.“ Johannes soll später dieses Wort noch ergänzen: „Wie Christus sein Leben
für uns abgelegt hat, soll auch jeder für seinen Bruder sein Leben schenken.“
Welche
Schlussfolgerungen sollen wir aus all dem ziehen, was Gemeinschaft und
Einzelpersonen an Spannungen tragen?
1. Sei Diener der
Gemeinschaft, aber nicht ihr Sklave. Der Menschensohn ist zwar nicht
gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern, um zu dienen und sein Leben als
Lösegeld hinzugeben für die Vielen. Aber die Gemeinschaft kann auch zuviel
fordern. Lass dir die innere Freiheit nicht rauben, die Folgsamkeit gegen das
innere Licht. Bewahre dir aber auch die Freiheit der Tat und des Opfers. Nicht
nur möchte ich an das Wort des Heiligen Vaters erinnern, dass ein
verbrecherischer Befehl den Einzelnen nicht von der Verantwortung entbindet,
sondern auch an das Gesetz der Berufswahl: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als
mich, ist meiner nicht wert.
2. Sei Seele der
Gemeinschaft, nicht ihr Dämon. Wo du bist, soll ein Stück Gottesreich sein,
nicht ein Stück Hölle oder Satansherrschaft voll Hader, Streit und Neid.
3. Sei Herz der
Gemeinschaft, nicht ihr Parasit. Denke an das kostbare Christuswort, das die
Urgemeinde mit besonderer Liebe gehütet: „An dir soll die Gemeinschaft nicht
verbluten, sondern reicher werden.“
Gibt es wohl Menschen, die
so selbstlos sind, dass jede Gemeinschaft an ihnen gesundet? Nur das eine möchte
ich erwidern: Macht die Augen weit auf, und ihr werdet so manches Licht
sehen, das unter dem Scheffel brennt. Oft ist es nur eine vielgeprüfte Mutter,
die für die ganze Nachbarschaft Helferin in jeglicher Not geworden. Solche
Menschen sorgen dafür, dass das Unkraut den Weizen nicht erstickt und dass der
Sauerteig des Guten auch die zäheste Masse des Bösen durchdringt. So kann man
verstehen, dass der Dichter feststellen muss: Mit seinen Frauen steht und fällt
ein Volk. Darum sieht auch die Kirche das Grundgeheimnis der erlösenden Liebe
des göttlichen Herzens im Schoße jener Frau aufblühen, die sie nennt „die Mutter
der schönen Liebe“, wohnend in der Gemeinschaft der Heiligen.
April 1951
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